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BBFK 2024

Berufsbildung in Zeiten des Mangels

Handlungserfordernisse
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9. österreichische Berufsbildungsforschungskonferenz am 3.-5.07.2024 in Innsbruck

Abstracts 2014

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Forum 1.2

Ambivalenzen der Berufsorientierung: Theoretische Konzeptualisierungen und empirische Befunde

Von:
Heidegger, Gerald; biat/Universität Flensburg, Deutschland
Koch, Martin; IfBE/Universität Hannover, Deutschland
Petersen, Wiebke; Institut für Berufspädagogik/Karlsruher Institut für Technologie
Schreier, Claudia; BIBB, Deutschland
Böhss, Marco; biat/Universität Flensburg, Deutschland
Gufler, Walter; Deutsches Schulamt, Autonome Provinz Bozen, Italien

Paper Session: 1
Zeit: Donnerstag, 03.07.2014, 14:15 - 16:15
Ort: MAW Mittlerer Saal
Typ: Forum



Ambivalenzen der Berufsorientierung: Theoretische Konzeptualisierungen und empirische Befunde

Das Thema Berufsorientierung kann und sollte direkt mit den beiden Überschriften des Schwerpunktthemas verbunden werden. Nämlich: Kompetent wofür? Life Skills - Beruflichkeit - Persönlichkeitsbildung.

Ferner müssen dabei auch die weiteren Gegensätze „Allgemeinbildung versus berufliche oder spezielle Bildung" thematisiert werden sowie der Zielkonflikt zwischen „Employability und Persönlichkeitsentwicklung“. Genau so wichtig ist auch die mögliche Wahl zwischen dem „Erfolgsrezept arbeitsintegrierten Lernens“ und der Tendenz zur Akademisierung. Für die Berufsorientierung sind mithin alle Spannungsfelder notwendiger Weise gemeinsam relevant, die in verschiedenen Ausprägungen die Zweige der Berufs(aus)bildung selbst prägen. Dies trifft auf beide Aspekte der Berufsorientierung zu: einerseits als Aufgabe von Beratern, Eltern und Freunden bei der Suche nach einer Berufs- und Lebensperspektive für die (oft jungen) Menschen, andererseits als eigenständige Aktivität von diesen selbst.

Dabei ist hervorzuheben, dass sich Berufsorientierung nicht nur auf die erst- und einmalige Berufswahl bezieht. Vor dem Hintergrund, dass heutzutage 50 % aller Dreißigjährigen nicht mehr im erlernten Beruf arbeiten (WITTWER 2003), gilt es auch oder gerade schon in der Berufsorientierung, für berufliche Umorientierungen und die Bewältigung von Umbrüchen im Berufs- und Privatleben zu sensibilisieren – also die Berufswahl im Sinne einer Optionswahl als kontinuierlichen langfristigen Entwicklungsprozess zu verstehen.

Sowohl für die Jugendlichen, die sich im Prozess der Berufsorientierung befinden, als auch für ihre Berater ist es dabei notwendig, die relative Gewichtung von beruflicher Fachlichkeit gegenüber Persönlichkeitsbildung und Lebenskompetenzen – verstanden als erweiterte Life Skills – zu gestalten. Insbesondere stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Allgemeinbildung zur speziellen Bildung – also zur beruflichen Bildung – steht, und zwar für jeden Einzelnen wie auch in gesellschaftlicher Perspektive (SPRANGER 1924).

Nach wie vor ist in Deutschland die Anzahl der Eintritte in ein duales Ausbildungsverhältnis relativ hoch. Hier sind sowohl für die Beratenden als auch für die Ratsuchenden die Vorteile des arbeitsintegrierten Lernens gegenüber den Chancen einer eher abstrakt gedanklichen Auseinandersetzung mit der Welt abzuwägen.

Letztere kommen in den Wünschen der aktuell befragten Jugendlichen in einer starken Tendenz einerseits zu Schulberufen und andererseits zu studienvorbereitenden Bildungsgängen (berufliches und allgemeinbildendes Gymnasium) zum Ausdruck. Dabei zeigte sich in der Wahl eine deutliche Geschlechtsspezifität, die bei der (relativen) Entscheidung zwischen eher theorieorientierter und stärker pragmatischer beruflicher Bildung nicht außer Acht gelassen werden sollte.

Des Weiteren haben die empirischen Untersuchungen übereinstimmend ergeben, dass die Eltern für den Berufsorientierungsprozess ihrer Kinder eine ganz herausragende Rolle spielen. Im Beitrag von Wiebke Petersen werden dazu Interpretationen diskutiert, die mit dem Zielkonflikt zwischen Employability und Persönlichkeitsentwicklung verknüpft sind.

Für sozial benachteiligte Jugendliche, die also nicht nur durch den Ausbildungsstellenmarkt benachteiligt sind, stellt sich dagegen eine ganz andere Frage, auf die Martin Koch eingeht. Sie werden neuerdings häufig wieder zur neuen Unterschicht gezählt und müssen ihnen gemäße Bewältigungsstrategien von der Schule in (hoffentlich) eine Ausbildung und/oder Tätigkeit finden.

Angesichts der Europäisierung der Berufsbildung und der hohen Jugendarbeitslosigkeit in fast allen europäischen Ländern ist die Frage in den Vordergrund gerückt, ob das deutsche duale System auch ein Vorbild für andere als die deutschsprachigen Länder sein könnte. Dazu sind für die Berufsorientierung starke Umbrüche in den grundlegenden Perspektiven zu erwarten, wie Claudia Schreier ausführt. Erfahrungen aus anderen Ländern – gerade auch mit einer stärkeren Präsenz theorieorientierter Bildungsgänge – sind auch für die Länder mit hohem Anteil dualer (Aus-)Bildungsgänge für die Zukunft von hohem Interesse.

Prof. Dr. Gerald Heidegger (Chair): Einführung

Marco Böhss: Berufliche Pläne von Jugendlichen zwischen Arbeitsintegration und Theorieorientierung

Vorgestellt wird eine empirische Untersuchung zu den Präferenzen Flensburger Jugendlicher für unterschiedliche (Berufs-)Bildungswege (BOEHSS/HEIDEGGER/RUETH 2013). Auffällig ist eine starke Tendenz zum weiteren Schulbesuch – entweder im Rahmen einer schulischen Berufsausbildung oder in studienvorbereitenden Bildungsgängen.

Demgegenüber liegt gemäß den letzten Datenreports zu den Berufsbildungsberichten (BIBB 2012, 2013) die retrospektiv erhobene Absicht, einen Beruf im dualen System zu ergreifen, wesentlich höher. Offenbar findet zwischen Mai, wo die aktuellen empirischen Untersuchungen stattfanden, und November, wo die retrospektiven Erhebungen von (Berufs-)Bildungsplänen durchgeführt wurden, eine deutliche Umorientierung statt. Geschieht diese aufgrund genauerer Kenntnis der beruflichen Möglichkeiten – oder aber, weil eine nur begrenzt freiwillige Anpassung an Zwänge des Bildungssystems und des Ausbildungsstellenmarktes stattfindet?

Dr. Wiebke Petersen: Berufsorientierung in der Realschule – Die Bedeutung der Persönlichkeitsbildung

Vorgestellt wird eine empirische Erhebung der Berufsbildungspläne von Realschüler/-innen in Baden-Württemberg (PETERSEN u.a. 2014). Eindrucksvoll ist das Ergebnis, dass die Eltern bei Weitem die größte Rolle für die Berufsorientierung spielen. Ihnen wird von ihren Kindern eine außerordentlich intensive und gute Einschätzung der Persönlichkeit bescheinigt. Für ihre Berufsorientierung sind den Jugendlichen offenbar diejenigen Lebensbereiche besonders wichtig, die eng mit persönlicher Eignung und Chancen zur Persönlichkeitsentwicklung verknüpft sind. Längerfristiges Entwicklungsziel der Berufsorientierung muss daher die Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben sein, die die „berufsbiographische Gestaltungskompetenz“ (HENDRICH 2003) fördern sowie die enge Verbindung von System und Lebenswelt (HABERMAS 1981) sichtbar machen, weil Berufsentscheidungen zu beiden Bereichen gehören.

Dr. Martin Koch: Tradierte Berufs- und Lebensorientierungen sozial benachteiligter Jugendlicher

Berufsorientierung erscheint vielfach als eigenständig gestaltbarer Prozess. Zwar werden dabei bereits ausgeprägte Dispositionen fokussiert. Doch worauf diese Prägungen gründen und inwieweit Berufswahlentscheidungen dadurch bereits vor ihrer Artikulation vorstrukturiert sind, bleibt häufig vage. Die Verteilung beruflicher Positionen ist jedoch etwas, was nicht aus dem Moment heraus entsteht und in seiner horizontalen und vertikalen Differenzierung auf bereits tradierte Lebensstile verweist. Auf Grundlage der Habitustheorie Pierre Bourdieus, der Auswertung regionalhistorischer Quellen und Datenerhebungen soll mit diesem Beitrag eine idealtypische Typologie exemplarischer Bewältigungsmuster vorgestellt werden, auf denen Berufsorientierungen und resultierende Kompetenzen benachteiligter junger Menschen implizit gründen können. Weitergehend soll darüber nachgedacht werden, wie diese Dispositionen reflektiert und auf veränderte Berufsziele bezogen werden können.

Dr. Claudia Schreier:

Ambivalenzen der Berufsorientierung in verschiedenen Lernkulturen Europas

Südeuropäische Länder kämpfen aktuell mit einer extrem hohen

Jugendarbeitslosigkeit, während Deutschland hier niedrige Zahlen vermeldet. Die günstige deutsche Entwicklung wird dem dualen Berufsbildungssystem zugeschrieben. Berufsorientierung wird daher zur Zeit in anderen europäischen Ländern oft so verstanden, dass für eine berufliche Ausbildung geworben und diese durch geeignete Maßnahmen attraktiver gestaltet werden muss. Denn in den meisten europäischen Ländern, die über ein vorwiegend schulisches Berufsbildungssystem verfügen, genießt eine Berufsausbildung geringes Ansehen, wird mit Schulabbrechern in Verbindung gebracht und sogar häufig mit Benachteiligtenförderung gleichgesetzt. Während viele akademisch gebildete junge Menschen keine adäquate Beschäftigung finden, besteht im Handwerk Fachkräftemangel. Dem soll mit einer Einführung dualer Strukturen und einer qualitativen und quantitativen Verbesserung betriebsintegrierten Lernens begegnet werden.

Dr. Walter Gufler (Discussant): Argumente zur Diskussion

Literatur:

Famulla, G.; Butz, B.; Deeken, S. ; Michaelis, U.; Möhle, V. ; Schäfer, B. (2008): Berufsorientierung als Prozess: Persönlichkeit fördern, Schule entwickeln, Übergang sichern. Bielefeld.

Lippegaus, P.; Mahl, F.; Stolz, I. (2010): Berufsorientierung – Programme und Projekte von Bund und Ländern, Kommunen und Stiftungen im Überblick. URL: http://www.dji.de/bibs/911904BerufsorientierungProgramme%20und%20ProjekteMahl.pdf (Zugriff: 13.11.2013)



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