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BBFK 2024

Berufsbildung in Zeiten des Mangels

Handlungserfordernisse
neu denken
9. österreichische Berufsbildungsforschungskonferenz am 3.-5.07.2024 in Innsbruck

Abstracts 2016

Thematisches Forum

Schnittstelle Wissenschaft und Praxis: Ein bisher vernachlässigter Motor für gendersensible Berufsorientierungsmaßnahmen?

Von:
Luttenberger, Silke; Bundeszentrum für Professionalisierung in der Bildungsforschung/Pädagogische Hochschule Steiermark, Österreich
Dreisiebner, Gernot; Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Wirtschaftspädagogik, Österreich
Ertl, Bernhard; Universität der Bundeswehr München, Deutschland
Fasching, Victoria; Arbeiterkammer Steiermark, Österreich
Paechter, Manuela; Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Psychologie, Österreich
Stock, Michaela; Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Wirtschaftspädagogik, Österreich
Tafner, Georg; Bundeszentrum für Professionalisierung in der Bildungsforschung/Pädagogische Hochschule Steiermark, Österreich

Typ: Thematisches Forum

Geschlechtsstereotype Einstellungen zu Berufen sind auch im Jahr 2016 noch immer weit verbreitet. In unseren Köpfen haben wir Bilder von Berufen, die wir für das jeweilige Geschlecht als passend empfinden. Diese Stereotype werden häufig im sozialen Umfeld (Eltern, Peers, Schule) erworben bzw. reproduziert. Es handelt sich dabei um vorherrschende Vorstellungen darüber, wie das angemessene Verhalten von Jungen oder Männern bzw. Mädchen oder Frauen aussieht. Diese Geschlechtersegregation stellt eine Tatsache dar, die in bildungspolitischen Analysen zur Chancengerechtigkeit zahlreich belegt ist. Dies bedingt einerseits fortgeführte Geschlechtsstereotype (z.B. Frauen haben emotional-sprachliche und Männer rational-technische Kompetenzen), die dazu führen, dass Frauen und Männer weiterhin ungleiche Lebens- und Berufschancen haben. Andererseits gibt es gerade in zukunftsträchtigen Branchen Engpässe, weil Frauen sich aufgrund ihres Geschlechts von diesen geschlechtsuntypischen Berufen ausschließen – obwohl Mädchen im Mittel höhere Bildungsabschlüsse mit besseren Noten haben als Jungen. Diese Tendenzen setzen sich bis in die tertiäre Ausbildung fort (Ertl, Luttenberger & Paechter, 2014).

Die dazugehörigen Lehrlingsstatistiken verdeutlichen dieses Phänomen: Bei weiblichen Lehrlingen ist weiterhin eine besonders starke Einschränkung auf geschlechtstypische Berufsentscheidungen beobachtbar. Ende 2014 wurde noch immer fast die Hälfte der Mädchen in drei Lehrberufen ausgebildet: Einzelhandel, Bürokauffrau, Friseurin (Dornmayr & Novak, 2015). Auch Jungen schränken sich vorrangig auf handwerklich-technische Lehrberufe ein.

Zahlreiche außerschulische Initiativen haben in den letzten Jahren versucht, Jugendliche für geschlechtsuntypische Berufe zu interessieren (z.B. Girls‘ Days/Boys‘ Days). Die Wirkung dieser punktuellen Maßnahmen – sich einen Tag im Jahr mit diesen untypischen Berufen zu beschäftigen – kann jedoch nicht eindeutig belegt werden. Rahn und Hartkopf (2016) konnten keine langfristigen Effekte bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Hinblick auf geschlechtsuntypische Berufsentscheidungen zeigen.

Neben diesen außerschulischen Initiativen kommt auch der Schule eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Berufsentscheidungen zu. Drei unterrichtliche Aufgaben sind in Bezug auf die Berufsorientierung bedeutsam:

1. Aufbau eines Berufswahlwissens, Wissen um persönliche Fähigkeiten, Interessen sowie Kompetenzen zum Finden einer Arbeits- oder Ausbildungsstelle

2. Förderung realistischer Selbstwirksamkeitserwartungen

3. Unterstützung bei einer subjektiv sinnvollen Lebens- und Berufsplanung

Es scheint nach wie vor schwierig zu sein, junge Menschen in ihren Berufsentscheidungen so zu unterstützen, dass sie ein breites Spektrum an Möglichkeiten für sich sehen und in weiterer Folge auch geschlechtsunabhängige Entscheidungen treffen können. Es braucht dafür offenbar überdurchschnittliche Ressourcen und viel Rückhalt durch das soziale Umfeld.

Kann schulische Berufsorientierung einen Motor für die geschlechtsunabhängige Berufswahl darstellen? Die unterrichtlichen Aufgaben weisen bereits auf die bedeutsamen Felder schulischer Berufsorientierung hin. Informationsvermittlung und kurzfristige Interventionen reichen jedoch nicht aus, es bedarf langfristiger Initiativen zur Förderung geschlechtsunabhängiger Berufsentscheidungen durch eine starke Individualisierung. Gendersensible Berufsorientierungsangebote, die nicht nur an der Kategorie Mann oder Frau ansetzen, müssen an den individuellen Interessen und Fähigkeiten ansetzen und die berufliche Selbstwirksamkeit in untypischen Berufen fördern.

Diese gendersensiblen Berufsorientierungsangebote haben bisher jedoch kaum Eingang in die schulische Berufsorientierung gefunden. In den letzten Jahren gab es aus diesem Grund immer wieder die Forderung, das Thema geschlechtsstereotype Berufsentscheidungen in den Fokus der Berufsbildung zu stellen und eine Professionalisierung in diesem Bereich zu erlangen (OECD, 2006).

Doch wie können solche gendersensiblen Berufsorientierungsangebote überhaupt aussehen? Die Auseinandersetzung mit empirischen Befunden zu geschlechtsstereotypen Berufsentscheidungen stellt eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Angeboten – wie etwa von didaktischen Szenarien – für den gendersensiblen Berufsorientierungs-unterricht dar. In diesem thematischen Forum sollen einerseits in kurzen Impulsvorträgen bedeutsame Bereiche für geschlechtsunabhängige Berufsentscheidungen aus wissenschaftlicher Sicht thematisiert werden. Anderseits sollen wichtige Erkenntnisse aus der Praxis einen Einblick in die Berufsentscheidungen von jungen Menschen geben. Dabei soll die Frage verfolgt werden: Ist die Schnittstelle Wissenschaft und Praxis ein Motor für gendersensiblen Berufsorientierungsunterricht?

In weiterer Folge werden die Impulsvorträge und Praxisbeiträge kurz beschrieben:

Dr. Silke Luttenberger und Univ.-Prof. Dr. Manuela Paechter (Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Psychologie) stellen Ergebnisse zur bedeutsamen Rolle von beruflichen Interessen und dem Einfluss des sozialen Umfelds (Eltern und Peers) für die Wahl geschlechtsunabhängiger Berufe dar. In einer Studie an Polytechnischen Schulen (Luttenberger, Aptarashvili, Ertl, Ederer & Paechter, 2014) konnte gezeigt werden, dass junge Menschen, die sich für geschlechtsuntypische Berufe interessieren, wenig soziale Unterstützung erleben und häufig keine beruflichen Rollenmodelle (z.B. Eltern) vorfinden. Zusätzlich herrscht häufig eine Unklarheit über die eigenen beruflichen Interessen.

Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ertl (Donau-Universität Krems, Department für Interaktive Medien und Bildungstechnologien) thematisiert in seinem Impulsvortrag die Rolle von Motivation und Stereotypen für die Wahl geschlechtsunabhängiger Berufe. In einer Studie mit MINT-Studentinnen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) wurde deutlich, wie anfällig selbst diese Studentinnen für stereotype Fähigkeitszuschreibungen (Mädchen sind weniger gut in MINT-Fächern) sind (Ertl et al., 2014). Lieblingsfächer in der Schule aus dem MINT-Bereich wirken positiv auf die Motivation und Fähigkeitszuschreibungen in geschlechtsuntypischen Bereichen.

Der Praxisbeitrag von Gernot Dreisiebner, BSc MSc MSc (Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Wirtschaftspädagogik) zeigt erste Ergebnisse aus dem vom Land Steiermark finanzierten Projekt „Geschlechtsstereotype Berufsentscheidungen bei Jugendlichen, die einen Lehrberuf anstreben: ein individuelles und ein gesellschaftliches Problem“. Erkenntnisse aus den Interviews zu geschlechtsuntypischen Berufsentscheidungen mit Schülerinnen und Schülern aus Polytechnischen Schulen werden in Relation zu den wissenschaftlichen Ergebnissen aus den Impulsvorträgen diskutiert.

Der Praxisbeitrag von Victoria Fasching (Bewerbungstrainerin, AK Steiermark) zeigt Einblicke in die Berufsberatung von jungen Menschen. Bewerbungstrainer/innen erleben an vorderster Front die Veränderungen in der Arbeitswelt und können einen Einblick in die Arbeitsmarktsituation von jungen Menschen geben. Dieser Praxisbeitrag stellt eine weitere Perspektive in diesem thematischen Forum dar.

PD HS-Prof. Dr. Georg Tafner (Bundeszentrum für Professionalisierung in der Bildungsforschung, Pädagogische Hochschule Steiermark und Humboldt-Universität zu Berlin) diskutiert den Stellenwert von Didaktik als Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. In seinem Impulsvortrag geht er auf das Verhältnis von Theorie und Praxis sowie auf didaktische bzw. bildungstheoretische Zugänge ein. Er diskutiert die Frage, ob didaktische Szenarien für einen gendersensiblen Berufsorientierungsunterricht überhaupt vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Ergebnisse und Erkenntnissen aus der Praxis entwickelt werden können.

Eine Gegenüberstellung wissenschaftlicher Ergebnisse zu den Erkenntnissen aus der Praxis soll es ermöglichen, unterschiedliche Perspektiven zu gendersensibler Berufsorientierung darzustellen. In einer anschließenden Podiumsdiskussion, die von Univ.-Prof. Dr. Michaela Stock (Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Wirtschaftspädagogik) geleitet wird, soll gemeinsam mit dem Publikum die Frage verfolgt werden: Schnittstelle Wissenschaft und Praxis in der Berufsbildung: Ein bisher vernachlässigter Motor für gendersensible Berufsorientierung?

Gemeinsam mit dem Publikum sollen erste Überlegungen für gendersensible Berufsorientierungsmaßnahmen entwickelt werden.



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